Ausweg aus häuslicher Gewalt
Land-Grazien bieten Frauen geheime Beratungstreffen

Oft wird bei der Beschreibung dörflichen Lebens betont, dass es mehr Zusammenhalt und nachbarschaftliche Hilfe gibt. Die Land-Grazien, die sich um misshandelte Frauen auf dem Land kümmern, kennen auch die Kehrseite dieses Zusammenlebens. Opfer finden kaum Hilfe, ihnen droht zudem soziale Ausgrenzung.

Das Herzogtum Lauenburg ist Idylle pur. Eingebettet in Seen und Wälder oder an den Ufern der Elbe liegen bezaubernde Dörfer und Kleinstädte. In dieser Landschaft ist Miriam Peters unterwegs, allerdings sieht sie die Einfamilienhäuser und Höfe mit anderen Augen als die Tourismusbüros. Peters ist Sozialarbeiterin und kümmert sich um Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden.

Das aktuelle Lagebild „Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes (BKA) konstatiert für 2022 einen Anstieg der Betroffenenzahlen um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 240.547 Menschen haben Anzeige gegen Täter und Täterinnen erstattet. Von diesen Betroffenen sind 71,1 Prozent weiblich (171.076) und 28,9 Prozent männlich (69.471). RTL widmet dem Thema häusliche Gewalt heute ab 20.15 Uhr einen Schwerpunktabend.

Das Lagebild beschreibt die aufgedeckten Vorfälle, Peters und ihr Projekt „Land-Grazien“ haben es mit den Schicksalen zu tun, die hinter den Zahlen stehen oder die auch gar nicht erst angezeigt werden. Eines ihrer wichtigsten Werkzeuge ist ihr Beratungsmobil, das man jedoch auf den ersten Blick für den Firmenwagen eines handwerklichen Betriebs halten könnte. „Unser Beratungsmobil ist immer mit unterschiedlicher Werbung von Unternehmen oder Handwerkern beklebt, sodass niemand auf die Idee kommen würde, dass wir im hinteren Teil ein Büro eingebaut haben“, erzählt Peters ntv.de.

Der Überwachung entkommen

Die Tarnung hat einen guten Grund. „Das gibt uns die Freiheit, dass wir uns überall mit Frauen treffen können, wo sie sich gerade aufhalten.“ Das kann in der Nähe des Wohnorts sein, weil die betroffene Frau dort gerade spazieren geht oder es wegen eines schlechten Verkehrsnetzes keine Möglichkeit gibt, irgendwo anders hinzufahren. Es kann aber auch der Parkplatz der Schule, des Kindergartens oder des Einkaufszentrums sein. „Wir haben uns auch schon mal mit einer Frau auf einem Parkplatz vor dem Friedhof getroffen, weil sie dort regelmäßig zur Grabpflege war.“

Die unkomplizierte Möglichkeit, sich zu treffen und miteinander zu sprechen, ist für viele der Frauen unter Umständen überlebenswichtig. Denn Partner und Ehemänner, die in der Beziehung regelmäßig körperlich oder seelische Gewalt ausüben, neigen dazu, die Frauen rund um die Uhr zu kontrollieren. Wer aber ständig von einem Ortungsdienst überwacht wird, kann kaum eine Beratungsstelle aufsuchen.

Peters gründete 2020 den „Frauen helfen Frauen Sandesneben und Umgebung e.V.“, der Träger der Land-Grazien ist. Der Verein finanziert sich bisher aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen, zusätzlich kommt etwas Unterstützung von zwei Stiftungen. „Ich bin selber auf dem Land groß geworden und für mein Verständnis brauchten wir unbedingt ein Angebot, was explizit für die ländliche Bevölkerung konzipiert ist“, sagt die Sozialarbeiterin. Viele gingen davon aus, dass man Projekte oder Konzepte, die in der Stadt funktionieren, eins zu eins auf ländliche Regionen übertragen kann. Das sei aber ein Irrtum.

Zerstörung der Bullerbü-Idylle

Oft werde bei der Beschreibung des dörflichen Lebens betont, dass es mehr soziale Nähe gebe, mehr Zusammenhalt und nachbarschaftliche Hilfe, nicht zuletzt, weil man aufeinander angewiesen sei. Dieses Zusammenleben habe aber auch viele Nachteile. „Man wird halt viel beobachtet, man steht viel unter Kontrolle, auch von den Nachbarn. Und das kann dazu führen, dass eine gewisse Normvorstellung, wie man sich zu verhalten hat, vorausgesetzt wird.“ Entspricht man dem nicht, „kann ein Ausschluss aus der Gesellschaft, aus der dörflichen Gemeinschaft sehr schnell passieren“.

Häusliche Gewalt findet hinter verschlossenen Türen und Gardinen statt, viele hätten den Eindruck, dass es das auf dem Land gar nicht geben würde. „Das stimmt aber nicht. Es ist einfach nur besser versteckt“, sagt Peters. Vor allem tradierte Familienmodelle, in denen Frauen höchstens in Teilzeit berufstätig sind und sich nahezu allein um die Kinder und die Familienarbeit kümmern, können Partnerschaftsgewalt fördern. Das zeigen wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder. Zudem sind Frauen, die sozial isoliert sind, erheblich häufiger von schweren Misshandlungen betroffen. Andersherum sind schwere Misshandlungen gehäuft mit erhöhter sozialer Isolation der Frauen verbunden.

„Frauen sind sehr geschickt darin, Wunden zu verstecken, weil sie sich unglaublich dafür schämen, dass ihnen so was passiert“, betont Peters. Sie machten sich Selbstvorwürfe, obwohl es oft Nachbarn gebe, die die Schläge, Misshandlungen und Schreie mitbekommen. „Jeder weiß, was da los ist und die Menschen schauen weg, weil ihre Vorstellungen vom Bullerbü-Leben auf dem Land damit vollkommen zerstört werden würden.“

Deshalb ist es den Land-Grazien wichtig, dass wirklich jede Frau das Gefühl hat, dass sie sich melden kann. „Das kann eine einmalige Beratung sein, auch online oder am Telefon“, betont Peters. „Es können aber auch mehrmalige Beratungstreffen sein, bis hin zur Begleitung zu unterschiedlichen Institutionen wie Polizei, vertrauliche Spurensicherung oder auch ins Frauenhaus.“ Die Beratung ist immer anonym möglich.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Vielen Frauen, die sich melden, ist zwar klargeworden, dass sie in einer gewalttätigen Beziehung leben. Die Hürden für eine Trennung sind trotzdem hoch. Oft gibt es finanzielle Abhängigkeiten oder Sorge um die gemeinsamen Kinder, oft wissen die Frauen auch einfach nicht wohin. Peters will der Frage, warum Frauen gewalttätige Partner nicht verlassen, andere Fragen entgegensetzen. „Warum kriegt er das nicht hin, seine Wut woanders rauszulassen? „Warum treffen Männer immer wieder die Entscheidung für Gewalt? Und warum muss sie gehen und alles zurücklassen?“

Wie schwer den Frauen genau das fällt, hat sie oft genug in ihrem Beratungsbus gehört. „Viele haben immer wieder Hoffnung, dass es wieder besser wird, dass es anders wird.“ Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis diese Hoffnung erlischt.

Und dann erzählt Peters von der ältesten Frau, die sich bisher zur Beratung gemeldet hat und der der Verein half. „Sie war über 80 und 60 Jahre verheiratet und hat sich bei uns gemeldet mit den Worten: ‚Frau Peters, so kann ich nicht sterben‘.“ Diese Frau habe über Jahrzehnte massive Gewalt erlebt, am Schluss habe sie in einem Zimmer gelebt, dass sie nur mit der Erlaubnis des Ehemannes verlassen durfte. Sie habe nicht gewusst wohin, hatte kein eigenes Bankkonto, keine eigenen Einnahmen, weil sie nicht arbeiten durfte. Am Ende zog die Frau mit einer Freundin in einer WG zusammen. „Sie dachte, die Alternative zu dieser Gewaltbeziehung ist für mich Armut und Obdachlosigkeit. Dann bleibe ich eben hier und halte das aus.“